Laudatio – Bensheim 23. November 2010: Simon Karstens - Sonnenfels

gehalten von Univ.-Doz. Dr. William D. Godsey (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien)

Sehr verehrte Frau Heimann, meine sehr verehrten Damen und Herren:

Wer war Joseph von Sonnenfels? – dessen Biographie Gegenstand der Arbeit von Simon Karstens ist, die wir heute Abend mit großer Freude auszeichnen. In der Geschichtsschreibung von Spätaufklärung und staatlicher Reform in Zentraleuropa – das heißt in unserem Kontext in der Donaumonarchie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – ist nahezu keine Gestalt so allgegenwärtig wie Joseph von Sonnenfels. 1733 im südmährischen Nikolsburg geboren und im hohen Alter im Jahr 1817 in Wien gestorben wirkte er im Laufe einer langen Karriere unter anderem als Hochschullehrer, in der öffentlichen Verwaltung und in der Publizistik. Seit dem 19. Jahrhundert stellt ihn die Historiographie geradezu als treibende Kraft der Frühmodernisierung von Gesellschaft und Staat in Österreich dar. Stichwörter hier sind etwa Folter und Todesstrafe – bei der Bekämpfung und Zurückdrängung dieser Praktiken ist ihm bisher fast einhellig ausschlaggebender Einfluss eingeräumt worden. Auch bei der bekannten Juden- und Toleranzgesetzgebung Kaisers Joseph II. wird Sonnenfels von einem Teil der Forschung eine entscheidende Rolle zugeschrieben – nicht zuletzt vor seinem eigenen Hintergrund als christlicher Konvertit jüdischer Abstammung. Dank seines vermeintlichen Beitrags überhaupt zur Überwindung der alten ständischen Ordnung durch eine moderne bürgerliche Gesellschaft hat sein Bild schon früh nahezu heldenhafte Züge bei der Nachwelt bekommen. Wie kaum ein Zweiter mit der Ausnahme des großen Reformers selbst – also des Kaisers Josephs II. – hat Sonnenfels den aufgeklärten Staatsmann Österreichs schlechthin verkörpert.

Bekanntlich werden menschliche Helden im Laufe der Zeit allzu oft aus ihrem historischen Kontext und aus ihren eigenen Lebenszusammenhängen herausgelöst. Hier denke man etwa an Mozart – der ebenfalls vielfach zum Vorkämpfer der Zukunft hochstilisiert worden ist – und so ist Sonnenfels als Zeitgenossen des großen Komponisten in gewisser Weise auch ergangen. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tode galt Sonnenfels als Identifikationsfigur für das bedrängte liberale politische Lager Österreichs, das in ihm – ich zitiere – „einen hellleuchtenden Stern aus den Tagen des Übergangs von der Dämmerung zum Lichte“ verherrlichte. Paradoxerweise trugen zeitgenössische reaktionäre Kräfte mit ihren Verteufelungsversuchen ihrerseits dazu bei, die Wahrnehmung von Sonnenfels als eine Schlüsselfigur der Epoche aufgeklärter Reform zu schärfen. Diese politischen Grabenkämpfe sind natürlich längst Geschichte und von Verteufelung kann heute in Hinblick auf Sonnenfels keine Rede sein. Seine Heroisierung hat dagegen eine gewisse nachhaltige Wirkung entfaltet, die durch den politischen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg und die neuerliche Suche nach positiv zu bewertenden Vergangenheitsbezügen abermals begünstigt wurde. Folglich ist eine relativ umfangreiche neuere Literatur zu Sonnenfels entstanden deren Sprache freilich nüchterner ist als diejenige des 19. Jahrhunderts. Auffallend bei dieser Literatur ist allerdings, dass sie weitgehend ohne Heranziehung unveröffentlichter zeitgenössischer Quellen auskommt und – auch deswegen – einen Diskurs zum Teil weit entfernt von der Lebenswirklichkeit Sonnenfels fortgeführt hat.

Hier setzte Herr Karstens an: er erschloss einen Großteil der bisher wenig beachteten, aber umfangreichen archivarischen Überlieferung zu Sonnenfels. Das Gelingen dieses Unterfangens ist umso beeindruckender als die Quellenlage äußerst schwierig ist. Seit dem berüchtigten Großbrand im Wiener Justizpalast im Juli 1927 mit seinen verheerenden Folgen für die Überlieferung der Zentralbehörden der Donaumonarchie existiert auch kein Nachlass Sonnenfels mehr. Sonst gibt es keine größere geschlossene Dokumentensammlung die unmittelbar zu seinem Lebenslauf und seiner Karriere Auskunft geben könnte. Es blieb daher den Rückgriff auf die Unterlagen der vielen Institutionen bei denen Sonnenfels tätig war bzw. die sich mit ihm befassten. Heute sind die von Karstens eingesehenen Akten auf eine Reihe österreichischer Archiven verteilt, wobei die Recherchen einerseits durch fehlende Ordnung bzw. noch ausstehende fachliche Erschließung wichtiger Materialien, andererseits wiederum durch die Schäden des Justizpalastbrandes erschwert wurden. Dennoch hat es Karstens geschafft durch gründliche Forschungsarbeit aussagekräftige neue Quellenfunde zu machen und sie zusammen mit einer Vielzahl veröffentlichter Schriften sowie bisher bekannter Dokumenten schlüssig und überzeugend auszuwerten.

Ich würde vermuten, dass die schwierige Überlieferungslage Karstens letztendlich gar nicht ungelegen gekommen sein dürfte. Denn es ging ihm nicht um die vereinfachende Fokussierung auf die Person Sonnenfels und seine Überhöhung im Sinne der bisherigen biographischen Literatur – wozu das Vorhandensein etwa eines Nachlasses verleiten kann. Nein, stattdessen unternahm der Autor die Einbettung Sonnenfels und seines Handelns in das jeweilige konkrete historische Umfeld, um gezielter die Frage nach seiner tatsächlichen Einflussnahme auf staatliche Reforminitiativen zu beantworten. Dabei stützt er sich auf weiterführende theoretische Überlegungen und wendet eine durchaus anspruchsvolle und interdisziplinäre Methodik an, die die Erkenntnisse der neueren sogenannten Netzwerkforschung aus dem Bereich der Soziologie aufgreift. Um es vielleicht etwas simplifizierend auszudrücken: Karstens zeigt die Handlungsspielräume der Person Sonnenfels in Form seiner sich im Laufe der Zeit im Wandel begriffenen sozialen Beziehungen – familiären, persönlichen, beruflichen – auf souveräner Weise auf. Eine lesbare und – wegen des merkbar detektivischen Gespürs des Autors – spannende biographische Studie ist entstanden. Das Problem der Reichweite des Einflusses von Sonnenfels wird einer gründlichen Revision unterzogen, wobei sein Bild von manchen langlebigen Mythen befreit wird.

Auf die vielen neuen Einsichten und Erkenntnisse der Studie kann heute Abend leider wegen der Kürze der Zeit nicht eingegangen werden. Dennoch möchte ich einige wenige Aspekte der Arbeit exemplarisch herausgreifen, die mir in Hinblick auf Sonnenfels’ bisheriges Geschichtsbild von besonderem Interesse erscheinen. Wie schon angedeutet ist die Abschaffung der Folter, die im Jahr 1776 erfolgte, traditionell als herausragende Errungenschaft Sonnenfels gesehen worden.  Diese Auffassung ist vielfach durch die Erscheinung seiner Reformschrift „Ueber die Abschaffung der Tortur“ zu erklären, die in der Schlussphase der Diskussion auf höchster Ebene veröffentlicht wurde und großes Aufsehen erregte. Obwohl in letzter Zeit eine vorsichtige Relativierung von Sonnenfels’ Rolle bei der Beendigung dieser Praxis stattgefunden hat wird er oft – etwa in den gängigen biographischen Lexika – weiterhin mit der Abschaffung in unmittelbarer Verbindung gebracht.

Karstens brillante quellennahe Kontextualisierung von Sonnenfels’ Rolle bei den damaligen Regierungsberatungen zur Folterfrage räumt nun mit der alten These auf und darf zudem als Musterbeispiel sauberer historischer Methodik gelten. Seine diesbezüglichen Erkenntnisse – einschließlich seiner Einbettung Sonnenfels’ in sein damaliges sozial-institutionelles Umfeld – möchte ich im Folgenden auf fünf Punkte kurz zusammenfassen. Er zeigt, erstens, dass Sonnenfels zu der fraglichen Zeit lediglich als Rat der niederösterreichischen Landesregierung fungierte und der Zentralstelle, wo die Entscheidung schließlich getroffen wurde, gar nicht angehörte. Die Zentralstelle forderte zwar von der Landesregierung ein Gutachten zum Folterproblem ab – das Votum Sonnenfels’ fand freilich, zweitens, keine Mehrheit im dortigen Ratsgremium, wo ja die Beibehaltung der Praxis empfohlen wurde. Drittens, die Beratungen bei der Landesregierung waren bei der Drucklegung von Sonnenfels’ später berühmte Reformschrift – die mit seinem Regierungsvotum mehr oder minder identisch war – schon abgeschlossen. Viertens die Verhandlungen liefen bei der Zentralstelle – und hier zitiere ich den Autor unmittelbar – „ohne eine nachweisliche Beteiligung Sonnenfels“ ab. Schließlich und fünftens (und vielleicht am meisten verblüffend): das Ergebnis der Verhandlungen – die völlige Abschaffung der Folter – stimmte gar nicht mit der Sonnenfels’schen Lehre überein! Denn bis ins 19. Jahrhundert vertrat dieser Rechtsgelehrte die Ansicht, dass Folter unter Umständen anzuwenden sei. In der Frage der schrittweise erfolgten Einschränkung der Todesstrafe um dieselbe Zeit zeichnet Karstens ein ähnlich überzeugendes Bild das ebenfalls der hergebrachten Sichtweise in Frage stellt: auch an dieser Reform hatte Sonnenfels keinen maßgeblichen Anteil, nicht zuletzt durch fehlende Gestaltungsmöglichkeiten auf Grund seiner untergeordneten offiziellen Position.

Ich möchte jedoch hier nicht den Eindruck erwecken, dass es Karstens um die Demontage einer gewiss schillernden und zur Selbstinszenierung und Selbstglorifizierung neigenden Persönlichkeit ging. Eine Entmythologisierung des Helden findet bei Karstens zwar statt, die Bilanz fällt aber nicht nur „negativ“ aus. Die leitende Fragestellung der Studie – nach den sozialen Beziehungen – ermöglichte gleichzeitig die Verortung nachhaltigen Sonnenfels’schen Einflusses in weniger spektakulären Sphären der Regierungstätigkeit, etwa bei langjährigen Kommissionsarbeiten die sich mit Rechtsreformen befassten. Dabei kamen ihm seine breite berufliche und soziale Vernetzung und seine anerkannte Fachkompetenz zu Gute. Vielfach wirkte er in Verbindung mit Fördern und einflussreichen Persönlichkeiten die – im Gegensatz zu ihm – dem unmittelbaren Beraterkreis der Monarchen angehörten und die seine Ansichten vor dem Hintergrund des aufgeklärten Reformdiskurses teilten. Dabei ist eine wechselseitige Beeinflussung feststellbar, die sich zum Vorteil Sonnenfels und zum Ausbau seiner Machtposition auf der zweiten Ebene der Staatsverwaltung auswirken konnte. Seinen Einfluss verdankte Sonnenfels nicht zuletzt der Tatsache, dass er als äußerst erfolgreicher Hochschullehrer Generationen von Studenten an der Universität Wien ausbildete. Nicht wenige von diesen stiegen in der Folge in ranghohe Staatsämter auf. Karstens zeigt zum Beispiel wie sich Sonnenfels auf die solide Unterstützung eines einflussreichen ehemaligen Schülers bei Abstimmungen in einer Gesetzeskommission verlassen konnte.

Die Arbeit von Karstens führt uns schließlich vor Augen, wie bedeutsam persönliche Beziehungen, Seilschaften und Patronage- und Klientelverbindungen selbst unter den geänderten Vorzeichen des österreichischen Reformstaates des späten 18. Jahrhunderts blieben. Die vermeintliche Modernität dieses Staates – etwa nach Weber’schen Vorbild – wird ja häufig in der Historiographie betont bzw. einfach vorausgesetzt. Obwohl von Karstens nicht hervorgehoben ist mir bei der Lektüre seiner Studie wieder aufgefallen, wie oft bis weit ins 19. Jahrhundert gerade Vertreter der hohen Aristokratie und des ständischen Adels Schlüsselpositionen im damaligen österreichischen Staat besetzten – und dabei auch als Vorgesetzte von Sonnenfels agierten und die Schlussentscheidungen trafen. Wer waren diese Personen deren Namen zwar bekannt sind und in der Literatur immer wieder erwähnt werden, aber weiterhin im Schatten Sonnenfels ein geschichtliches Dasein fristen obwohl sie vielfach näher zu den Hebeln der Macht standen und daher größere Gestaltungsmöglichkeiten hatten als er. Selbst der Kaiserin Maria Theresia ist seit dem Ende der Monarchie keine umfassende wissenschaftliche Biographie gewidmet worden. Und von Kaiser Franz (dem letzten römischen Kaiser 1792–1806 und erstem Kaiser von Österreich 1804–35) – unter dem Sonnenfels am längsten diente – gibt es bis heute keine seriöse biographische Studie. Durch die Kontextualisierung von Sonnenfels – durch seine Einbettung in sein historisches Umfeld – werden die Bedeutung auch dieser Personen unterstrichen, auf noch bestehende geschichtliche Lücken aufmerksam gemacht und weiterführende Fragen aufgeworfen – diese Aufgaben gehören auch zu einer erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeit. Die hat Herr Karstens vorgelegt und dazu möchte ich ihm ganz herzlich gratulieren.