2022 - Rede des Preisträgers Dr. Johannes Czakai

Sehr geehrter Herr Prof. Huth,
sehr geehrte Mitglieder des Instituts und der Stiftung für Personengeschichte,
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine große Freude, heute hier vor Ihnen zu stehen. Ich bedanke mich ganz außerordentlich für die Einladung nach Schloss Heiligenberg und für die Organisation dieses schönen Abends. Vor allem aber danke ich Ihnen und der Jury ganz herzlich für die Verleihung des Forschungspreises des Jahres 2022.

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, verdanke ich auch vielen Menschen, die heute leider nicht anwesend sein können. Allen voran Prof. Rainer Kampling, der mich für diesen Preis vorgeschlagen hat, und natürlich meinen beiden Doktormüttern, Prof. Gertrud Pickhan und Prof. Sina Rauschenbach. Die Arbeit an diesem Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Sicherheit und die institutionelle Anbindung an das Selma-Stern-Zentrum für Jüdische Studien in Berlin sowie das Franz Rosenzweig Minerva Research Center an der Hebräischen Universität Jerusalem. Die Dankesliste ist lang; in meinem Buch umfasst sie drei Seiten. Daher werde ich es dabei belassen.

Wenn ich heute vor Ihnen stehe und mich für diese Auszeichnung bedanke, dann ist das nicht nur eine selbstverständliche Geste. Es ist mir eine Ehre, und eine große Freude. Ich freue mich nicht nur darüber, dass ich persönlich diesen Preis erhalte, sondern tatsächlich auch darüber, dass damit eine Arbeit, ein Thema gewürdigt wird, das mir sehr am Herzen liegt. Besonders auch, weil dieses Forschungsprojekt eine lange Reise hinter sich hat und am Beginn meiner Arbeit noch nicht damit zu rechnen war, dass sie eines Tages ausgezeichnet wird.

Am Anfang meiner Arbeit standen Namen. Wir alle haben Namen, sie sind fester Bestandteil des Lebens – man kann sagen, menschlicher Existenz und Individualität. Sie sind eine Alltäglichkeit, über die wir meistens nicht nachdenken und über die mitunter großes Unwissen herrscht. Ich gehe davon aus, dass die meisten Personen in diesem Saal über die Herkunft ihrer Vor- oder Familiennamen irgendwann einmal in ihrem Leben nachgedacht und vermutlich sogar geforscht haben. Doch immer wieder rede ich mit verschiedenen Menschen über ihre Familiennamen und höre die Vermutung „aber der hat keine Bedeutung“. Und ich antworte immer: „Doch, jeder Name hat eine Bedeutung!“ Jeder Name hat eine Geschichte – und meistens ist diese auch sehr interessant. Dabei bewegen sich Namen immer in einem faszinierenden Spannungsfeld zwischen Privatem und Öffentlichem. Auf der einen Seite sind sie ein Attribut menschlicher Individualität, etwas sehr Persönliches, mitunter gar Intimes. Auf der anderen Seite sind sie auch immer etwas Übermenschliches. Sie sind ein kommunikatives Mittel und verbinden das Individuum mit dem Kollektiv und verorten mitunter den oder die Einzelnen innerhalb einer größeren Gruppe. Sie sind Bezugspunkte für ganze Gesellschaften, Religionen, Ideologien, Sprachen und Nationen.

Am Anfang meiner Arbeit stand also die generelle Faszination für Namen – aber auch Mord und Zerstörung. Als ich vor vielen Jahren in Krakau studierte, besuchte ich den neuen jüdischen Friedhof der Stadt und stand unter anderem vor einem leeren Grab; einer Erinnerungstafel für Wilhelm, Regina und (Rysia) Róża Muskatenblüth, die 1942 und 1943 ermordet wurden. Diese Namen blieben mir bis heute im Gedächtnis. Wie hier, sind nach dem deutschen Vernichtungskrieg und dem Holocaust in vielen Orten Ostmittel- und Osteuropas Namen das einzige, was heute noch von der reichen jüdischen Vergangenheit zeugt; sowohl von dem großen Kollektiv der jüdischen Bevölkerung, als auch von einzelnen Menschen. Namen auf den Grabsteinen der vielen verlassenen Friedhöfe; Namen in den Gedenkbüchern von denen, die ermordet wurden. Sie zeugen von jenen Jüdinnen und Juden, die dort einst gelebt haben, und von der Katastrophe. Sie zeugen aber auch von einer geteilten jüdisch-polnisch-deutschen-(und auch -österreichischen) Vergangenheit, die weiter zurückgeht als Mord und Zerstörung. Familiennamen wie Muskatenblüth erzählen vom Leben und sie symbolisieren nicht nur ein Ende, sondern auch einen Beginn. Nämlich den Moment ihrer Entstehung. Die Namen, die wir heute erinnern, entstanden zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und aus einem ganz bestimmten Grund. Und diesen Ursprung zu ergründen, war fortan mein Ziel; ich wollte die Geschichte dieser Namen erforschen.

Ende des 18. Jahrhunderts begannen die europäischen Staaten damit, ihren jüdischen Einwohnern gesetzlich zu verordnen, feste Vor- und Familiennamen anzunehmen. Die diesbezüglichen Gesetze und Verordnungen sahen in jedem Land anders aus; auch ihre Durchführung. Bitte korrigieren Sie mich, aber ich vermute, in Bensheim war das 1808, im Zuge der Gesetzgebung von Hessen-Darmstadt. Am Beginn dieser ganzen Welle von Gesetzen stand jedoch die Habsburgermonarchie, wo 1787 das erste landesweite Namenspatent veröffentlicht wurde. Obwohl dieses Patent allgemein bekannt ist, sowohl in der Forschung, als auch teilweise in der Populärkultur, gab es bislang erstaunlich wenig historisch gesicherte Fakten, besonders zur Durchführung. Zudem wurde in den Darstellungen immer wieder auf die Namen der Juden in Galizien verwiesen, die sich vor allem durch Lächerlichkeit und Gehässigkeit auszeichnen, und die sich von allen anderen jüdischen Familiennamen unterscheiden sollten. Geschichten von brutalen Beamten, die Namen wie Kanalgeruch erfunden haben sollen, finden sich bis heute in der Forschungsliteratur. Ich bemerkte schnell, dass das Wissen und die Namensbeispiele zu diesem Thema stark von literarischen Arbeiten des 19. Jahrhunderts und wenig von ernsthafter Forschung geprägt sind. Mehr noch: Tatsächlich beruhte bislang keine Arbeit zu den Namen der Juden in Galizien auf zeitgenössischen Quellen.

Der größte Impuls für meine Forschung war demnach, den meiner Meinung nach unzuverlässigen und fehlerhaften Forschungsstand zu korrigieren und auf ein neues Fundament zu heben. Mit anderen Worten: Ich wollte Grundlagenforschung betreiben. Ich wollte sicherstellen, dass dieses kontroverse und spannende Thema nach über 200 Jahren endlich mit Hilfe von historischen Quellen diskutiert werden kann. Ich freue mich auch darauf, wenn meine Arbeit von späteren Historikerinnen und Historikern ergänzt, kritisiert, oder gar widerlegt wird. Aber ich wollte zumindest erst einmal die Basis dafür schaffen, dass dies überhaupt möglich ist. Meine Forschung war daher zunächst einmal eine sehr staubige Angelegenheit in etwa einem Dutzend Archive in vier Ländern und die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Dabei konnte ich zahlreiche bislang unbekannte Akten sichten und auswerten.

Alle Ergebnisse meiner Grundlagenforschung aufzuführen, würde in diesem Rahmen zu weit führen. Ich konnte Jahreszahlen korrigieren, Ausarbeitungs- und Durchführungsprozesse nachzeichnen, Beispiele empirisch vergleichen. So wissen wir nun, dass die erste Namensverordnung überhaupt bereits 1785 in Galizien durchgeführt wurde, und dass der Umstand, dass die Juden in Galizien deutsche Familiennamen registrierten, ursprünglich gar nicht geplant war, sondern sich aus den besonderen Umständen in dieser Provinz ergeben hat. Namen waren nicht einfach nur eine verwaltungstechnische Maßnahme, sondern ein Mittel, die jüdische Selbstverwaltung auszuhöhlen und durch staatliche Institutionen zu ersetzen.

Abgesehen von den sehr spezifischen Ergebnissen, zeigte sich also, dass das Thema ein weit größeres Potential in sich barg, nicht nur für Galizien und nicht nur für die jüdische Geschichte. Denn die Geschichte der Namensannahme in Galizien hat Implikationen für andere Forschungsbereiche. Sie gibt Einblick in politische und gesellschaftliche Vorgänge, in das Verhältnis von Untertanen zum Staat, in die Aufklärung und das Gedankengut des 18. Jahrhunderts. Sie ist ein Ausdruck für die Modernisierungsbestrebungen sich zentralisierender Staaten und das Bedürfnis von Verwaltungen, ihre Territorien und die Menschen in ihnen zu ordnen, zu kategorisieren und dadurch beherrschbar zu machen. Sie zeigt die Grenzen staatlicher Gewalt und die Möglichkeiten individueller und kollektiver Handlungsmacht. Sie verdeutlicht die Bedeutung von Sprache für den Aufbau moderner Verwaltungen sowie den zivilisierenden Blick mit dem Mitteleuropa in den Osten schaute.

Es war nicht einfach, diese Geschichte zu schreiben; ich fragte mich lange, wie man sie erzählt. Ich wollte nicht nur das große Ereignis beschreiben, das alle ca. 200.000 Jüdinnen und Juden in Galizien betraf, sondern ich wollte auf die persönliche Ebene vordringen. Quasi die Perspektive der personengeschichtsorientierten Forschung einnehmen und fragen: Welche Auswirkungen hatte die große Politik auf die kleinen Menschen? Wer genau entschied die Gesetze, wer führte sie durch, wurden die neuen Namen gewählt oder zugeteilt, und wer waren die Menschen, die plötzlich diese neuen Namen führten? Was sagt es uns, dass ein jüdischer Schneider, der aus der Sicht der Habsburger Zentralbehörden in Wien fernab an der Peripherie des Vielvölkerreichs lebte, seinen Namen ändern muss? Was sagt uns das das über diese Gesellschaft? Über diesen Staat? Vielleicht sogar über das 18. Jahrhundert und die Sattelzeit?

Aus dieser Perspektive heraus entschied ich mich, einen jüdischen Kleinhändler namens Nochem als Gerüst meiner Arbeit zu nehmen. Und immer von ihm, seinen Lebensumständen und seinen sich mehrfach ändernden Familiennamen auf die Politik dahinter hinauszublicken. Kurzgefasst, diese Perspektive ermöglichte es mir, nicht nur die Geschichte von Namen zu schreiben, sondern das Ganze umzudrehen, und mit Namen Geschichte zu schreiben.

Nochem ist dabei nicht der einzige Protagonist. Immer wieder habe ich versucht, aus einer Personengeschichtsperspektive nach der Rolle von Individuen in diesem Prozess zu fragen. Nicht nur nach den sogenannten berüchtigten „großen Männern“ der Geschichte, wie etwa Kaiser Joseph (dem) II., sondern all den anderen Akteuren. Etwa nach lokalen Beamten, wie Fidelis Erggelet, der hunderte Familiennamen erfand und sich dabei an den Familiennamen seiner Heimatstadt am Hochrhein orientierte. Oder den betroffenen Jüdinnen und Juden, die teilweise um ihre ökonomische Existenz kämpften und die auf diesem Wege die Wichtigkeit von Namen für die kaiserliche Verwaltung entdeckten. So wie etwa David Segal, der erfolgreich argumentierte, dass sein Name geändert worden sei, dass er identisch mit Hersch Bohrer sei, und dass ihm dadurch das eigentlich verbotene Schankgewerbe erlaubt war. Oder Perl Kümmel, die darauf beharrte, dass ihrer Erinnerung als Mutter mehr Bedeutung zukomme, als behördlichen Dokumenten.

Mit meiner Arbeit habe ich nicht nur versucht, ein historisches Ereignis zu betrachten, sondern auch eine Brücke in die Gegenwart zu schlagen. Die damals geschaffenen Namen existieren teilweise bis heute und sind mitunter noch immer Gegenstand einer popkulturellen Auseinandersetzung. Nicht zuletzt prägen sie bis heute die Familien, die sie tragen. In Hinblick darauf unternahm ich genealogische Forschungen, machte Nachfahren der von mir behandelten Protagonisten ausfindig und unterhielt mich mit ihnen darüber, was ihr Name heute für sie bedeutet. So komme ich darauf zurück, wie ein administratives Ereignis des 18. Jahrhunderts bis heute für die Nachfahren eine sehr persönliche oder intime Komponente hat.

Wie Sie vielleicht merken, die Arbeit an diesem Buch war für mich eine lange, von Idealismus geprägte Reise und eine unglaubliche Freude. In meiner Dissertation habe ich genau das gemacht, was mir seit langem so wichtig ist: Ich konnte Legenden hinterfragen und mit Hilfe von Grundlagenforschung auf einen neuen Wissensstand bringen. Ich konnte die sogenannten historischen Hilfswissenschaften, wie Genealogie und Namenkunde, einbringen und mit anderen Bereichen der Geschichtsforschung, wie Verwaltungs- und Kulturgeschichte verknüpfen. Es war und ist mir dabei wichtig, jüdische und christliche Geschichte nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern immer als eine geteilte Geschichte; eine Geschichte der Interaktion. Und vor allem habe ich versucht, die großen Entwicklungslinien der Geschichte mit den kleinen Details des Alltags zu verknüpfen sowie mit den einzelnen Menschen, die diesen Alltag prägten.

Wenn ich also nun vor Ihnen stehe und mich für die Verleihung dieses Preises bedanke, geschieht dies nicht nur deshalb, weil ein mich sehr prägendes Forschungsprojekt und eine abgeschlossene Dissertation gewürdigt wird, sondern weil mich Ihre Auszeichnung motiviert, die Themen und die Motive, die mich bislang geleitet und inspiriert haben, auch in meiner zukünftigen Forschung stark zu machen und zu verfolgen – worauf ich mich sehr freue.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.