2021 - Rede der Preisträgerin Dr. Nora Mengel

Lieber Herr Professor Huth,
sehr geehrte Mitglieder des Instituts und der Stiftung für Personengeschichte,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich sehr, hier und heute, in diesem feierlichen Ambiente, zu Ihnen sprechen zu können. Und mich für die Verleihung des Forschungspreises persönlich bedanken zu dürfen.

Gern hätte ich dies schon im letzten Jahr getan. Die Pandemie ließ es leider nicht zu.

Dabei habe ich mich außerordentlich gefreut, aus einem – sicher sehr starken – Kreis an Mitstreiterinnen und Mitstreitern, ausgewählt worden zu sein. Ich fühlte mich damals wie heute überaus geehrt, dass meine Arbeit an den ‚Biographien des Reichsso viel Aufmerksamkeit und Wertschätzung erhält.

Ins Positive gewendet, bedeutet die Corona-bedingte Situation für mich: Dass ich die Ehre, die mir durch die Preisverleihung zugeteilt wurde, besonders lang auskosten konnte. Die hiermit einhergehende Euphorie findet nun – mehr als anderthalb Jahre, nachdem ich von der Jury des Instituts für Personengeschichte ausgezeichnet worden bin – ihren Höhepunkt.

Dafür, dass die Wahl im Februar 2020 auf mich gefallen ist, möchte ich allen Mitgliedern der Jury herzlich danken. Für die Einreichung meiner Dissertation nach Ausschreibung des Forschungspreises im Jahr 2019 danke ich meinem Doktorvater Martin Aust und meiner Zweitgutachterin Julia Herzberg. Das SNF- und DFG-Forschungsprojekt ‚Imperial Subjects‘ ermöglichte mir, die Vorzüge des biographischen Zugangs zur Imperiengeschichte aufzudecken und anzuwenden. Ein großer Dank gilt daher auch den Projektleitern Benjamin Schenk, Robert Luft und Maurus Reinkowski.

Spätestens seit man mich im IEG in Mainz auf den Forschungspreis aufmerksam gemacht hat, ist mir bewusst geworden, dass es in Deutschland nicht nur ein großes Interesse an biographischer Forschung gibt, sondern diese auch entsprechend gewürdigt wird. Darüber bin ich sehr froh und überaus dankbar. Die Personen, um die sich meine Arbeit dreht, teilen ganz gewiss (wo auch immer sie gerade weilen mögen) meine Freude.

Während meines Forschungsprojektes blieb die Frage natürlich nicht aus, ob sich für meine Schrift überhaupt ein Publikum finden würde. Denn mit biographischen Sammelwerken des 19. Jahrhunderts verbinden die Meisten eine eher trockene Lektüre. Oft wurde ich im Freundes- und Bekanntenkreis gefragt, was genau mich an der Untersuchung dieser Lexika reizen würde. Erst mit meiner, zugegeben, wenig präzisen, aber doch sehr wirkungsvollen Antwort, ich käme dadurch dem Ursprung von Facebook auf die Spur, konnte ich mein Umfeld für das Thema begeistern.

In solchen Momenten dachte ich unweigerlich an Constantin von Wurzbach und Aleksandr Polovcov. Wie ein jeder von ihnen bei ähnlichen Zusammenkünften vor gut 160 Jahren seine Vision kundtat, Geschehnisse anhand von personenbezogenen Daten festzuhalten. Als Pioniere auf dem Gebiet der Erstellung von „Profilen“, hatten sie es nicht leicht, die entsprechenden Hebel in Bewegung zu setzen; Machthaber, Institutionen, Gönner und Unterstützung für die Abbildung eines imperialen personellen Netzwerkes zu gewinnen.

Ihre Unnachgiebigkeit bei der Durchführung dieser Großprojekte ist mir zum Vorbild geworden. Allen Widerständen zum Trotz, errichteten sie mit ihren biographischen Nachschlagewerken kulturelle Funktionsgedächtnisse, die die Sicht auf Werdegänge, Leben und Schicksale im Habsburger und Russländischen Reich bis heute prägen.

Nun brauche ich Sie, die Sie fast alle Fachkundige der Personengeschichte sind, nicht mehr davon zu überzeugen, wie sinnvoll und ertragreich es ist, sich mit Biographien und ihrer Entstehung zu beschäftigen.

Doch lassen Sie mich kurz zusammenfassen, welch wesentliche Rolle autobiographisches Schreiben, Biographien und Prosopographien in meiner Doktorarbeit spielen:

Im Rahmen der New Imperial Histories habe ich die Frage beantwortet, inwieweit die eben schon genannten Lexikographen Constantin von Wurzbach und Aleksandr Polovcov sich das Moment der Pluralität in Großreichen nutzbar gemacht haben, um bestimmte Raumvorstellungen wiederzugeben und manche davon besonders deutlich hervorzuheben. Die Beschreibung verschiedener Lebenserfahrungen imperialer Elitenangehöriger erlaubte ihnen einen Umgang mit dem Phänomen, dass die Wahrnehmung von Zusammengehörigkeit je nach Kontext und Region vielfältig, ambivalent und variabel ist.

Das Genre der Biographie bot sich für die Wiedergabe von Selbst- und Fremdbeobachtungen besonders gut an. Es stellt an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft, Subjektivität und Objektivität, Individuum und Gesellschaft die nötigen Werkzeuge bereit, um der Nachwelt eine von Menschen gemachte Imperiengeschichte glaubwürdig zu präsentieren. Wurzbach und Polovcov bemühten sich, den damit eingeläuteten öffentlichen Dialog über eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit zu moderieren. Denn die Lexika bereiteten nicht nur vorhandenes Wissen über berühmte Persönlichkeiten auf, sie sollten einen Querschnitt von allen für das Imperium als relevant erachteten Personen liefern, somit lehrreich sein und der Aufklärung dienen. Sie sind das Produkt einer gezielten Auswahl und Darstellung von autobiographischem und biographischem Material. Und waren zur Information, Orientierung und Identifikation mit dem Reich und seiner Herrschaft bestimmt.

Im Zentrum meiner Untersuchung stand die Frage, ob das Biographische Lexikon des Kaisertums Österreich, kurz: BLKÖ, und der Russkij Biografičeskij Slovar’, kurz: RBS, eine bestimmte Auffassung von Reich – ein sogenanntes Gesamt-staatsbewusstsein – kolportieren. Zur Klärung dieser Frage nahm ich folgende drei Ebenen in Augenschein:

1.) die Lebensverläufe von Wurzbach und Polovcov, 2.) die Entstehungsgeschichte der Lexika und 3.) die Inhalte der Lexika unter besonderer Berücksichtigung der Biogramme von Funktionären und Denkern sowie Grenzgängern und Oppositionellen.

Durch die Auswertung von über 100 Korrespondenzen in der Wienbibliothek und Schriften aus einem öffentlich nicht zugänglichen Wurzbach-Nachlass, schloss ich Lücken in der Biographie Constantin von Wurzbachs. In Hinblick auf Aleksandr Polovcov habe ich durch die Analyse seiner Tagebuchnotizen die politische Einstellung Polovcovs nachvollziehen können.

Die Gegenüberstellung der jeweiligen Selbstauskünfte hat gezeigt: So unterschiedlich Wurzbach und Polovcov durch ihre Herkunft, ihre soziale Stellung und ihren Lebenswandel auch gewesen sind, beide waren gleichermaßen von der Idee eines imperialen Einheitsstaates beseelt. Jeder von ihnen war ein obrigkeitstreuer Monarchist. In den Grenzgebieten des jeweiligen Reiches machten sie ihre ersten persönlichen Erfahrungen mit dem polnischen respektive dem ukrainischen Nationalismus, was sie zu überzeugten Gegnern nationaler Bewegungen machte und sie für eine allgemeine Verwaltungsreform plädieren ließ.

Polovcov und Wurzbach erhoben den Adel zum absoluten Maßstab. Demokratische Herrschaftsformen lehnten sie strikt ab, wobei sie nichts gegen gemäßigte liberale Reformen einzuwenden hatten. Einer Konstitution konnten beide, durch das dringende Bedürfnis nach Rechtssicherheit, prinzipiell mehr abgewinnen als dem Absolutismus.

Da sowohl Wurzbach als auch Polovcov der Meinung waren, dass eine uneingeschränkte Staatsgewalt nicht von Dauer sein könne, sollten die biographischen Einträge im BLKÖ und RBS aufzeigen, zu welchen Höchstleistungen und Fehlgriffen Personen im Laufe der jeweiligen Reichsgeschichte fähig gewesen sind.

Das Vermögen, sich selbst und sein Umfeld zu reflektieren, erlaubte es den beiden also nicht nur, ihre eigene Person, sondern auch andere als Teil des Ganzen zu betrachten. Ihr Interesse an Individuen, die für die Führung der Regierungsgeschäfte qualifiziert oder eben nicht qualifiziert waren, resultierte aus der je eigenen Suche nach Denkanstößen, Meinungsbildern und Lösungsansätzen, um die politische und gesellschaftliche Entwicklung im Reich voranzutreiben. Beide notierten in ihren privaten Aufzeichnungen ganz konkret, was in Zukunft geleistet werden müsse, um das imperiale Staatsgebilde aufrecht zu erhalten. Sie sahen sich demnach als prädestiniert an, die Deutungsmacht über das imperiale Personal zu übernehmen.

Durch die eingängige Betrachtung der jeweiligen Entstehungsgeschichte und die Analyse von je 1.000 Stichproben habe ich gewisse Muster entdecken können.

Formal unterscheiden sich die Biogramme in beiden Lexika nur gering voneinander. Fast alle sind nach einem chronologischen dreistufigen Leistungs- und Erfolgsmodell konzipiert; was zeigt, dass man dem Werdegang prinzipiell mehr Beachtung als der sozialen Stellung und Standeszugehörigkeit schenkte. Der RBS und das BLKÖ basieren also auf einem ähnlichen, bürgerlich konnotierten Wertekanon.

Doch rückte Wurzbach vor allem die persönlichen Leistungen einzelner Subjekte in den Vordergrund, derweilen Polovcov bevorzugt klassische Karriereverläufe beschreiben ließ. Daran zeigt sich: Im Russländischen Reich war, anders als in der Habsburgermonarchie, die bürgerliche historische Biographik noch im Begriff, sich zu etablieren. Erfolg werteten die Lexikographen deshalb unterschiedlich. Während Wurzbach vordergründig den Menschen im und hinter dem System beschrieb, legte Polovcov auf die Systemrelevanz sogenannter großer Männer sein Hauptaugenmerk.

An Stellen, an denen der russische Lexikograph bestimmten Personen, wie dem Philosophen Pëtr Čaadaev, dem Aktivisten Michail Bakunin oder dem Journalisten Michail Katkov, ihren maßgeblichen Einfluss auf die Reichsregierung durch Zeitsprünge und Auslassungen absprechen ließ, suchte Wurzbach im BLKÖ durch Pressetexte, Kommentare und Querverweise das Streitgespräch. So enthalten die Biogramme, wie das über den Tiroler Landesverteidiger Andreas Hofer, den Offizier Cäsar Wenzel Messenhauser oder den ungarischen Revolutionsführer Lajos Kossuth, vielmehr die politischen Ansichten von Wurzbach, als Informationen zu der entsprechenden Person.

Erlauben Sie mir, an diesem Punkt den Bogen zurück in die Gegenwart zu spannen: Die durch die eben genannten Filter präsentierten Personenverbände, die unabhängig von Stand, Alter, Geschlecht und Nationalität, allein durch die mental Maps ihrer Bildner zusammengehalten werden, können als Wiege der Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken gelten. Anders als ein Mark Zuckerberg heute, nahmen Constantin von Wurzbach und Aleksandr Polovcov die Verantwortung, die sie als Generatoren personenbezogener Daten inne hatten, äußerst ernst und schöpften die dadurch gebotenen Möglichkeiten innerhalb des imperialen Regimes aus, um ein kollektives Gedächtnis zu formen. Nun liegt es an uns, die hier betriebenen Erinnerungskulturen zu hinterfragen und die Biogramme, wie sie zu einem großen Teil noch in der aktuellen Wikipedia abrufbar sind, auf ihren Gehalt zu prüfen.

Sehr gern würde ich mich der Erforschung solcher Zusammenhänge noch eingängiger widmen. Der mir verliehene Preis ist Ansporn und macht definitiv Lust darauf, weitere Personengeschichtsforschung zu betreiben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!