2018 - Rede des Preisträgers Dr. Paul Beckus

Sehr geehrter Herr Baumhauer,
sehr geehrter Herr Professor Huth,
sehr verehrte Damen und Herren,

zunächst möchte ich den Mitgliedern der Stiftung und des Instituts für Personengeschichte sowie allen Mitarbeitern und Förderern des Institutes für die Verleihung des Forschungspreises meinen ganz herzlichen Dank sagen.

Ebenso bedanke ich mich für die Einladung zu diesem schönen Festakt. In diesem Zusammenhang möchte ich Herrn Huth und Herrn Dr. von Lehsten noch für die sehr freundliche Einleitung sowie die Organisation dieser Veranstaltung meinen Dank aussprechen.

Es war mir eine große Freude, als ich am 12. Februar von Herrn Huth die Nachricht erhielt, dass meine Arbeit von der Jury für den diesjährigen Forschungspreis ausgewählt wurde. Mir war es deswegen auch ein Anliegen und es ist mir eine große Freude, hier teilnehmen zu dürfen und Ihnen meinen Dank noch einmal persönlich ausdrücken zu können.

Die Verleihung ist für mich persönlich eine große Ehre und ich sehe sie auch als Ansporn für weitere Forschungsprojekte, die ich in den nächsten Jahren gerne umsetzen möchte.

Danken möchte ich auch meinen Betreuern Andreas Pečar und Holger Zaunstöck, die mich bei meiner Arbeit stets unterstützt haben und mit ihrem Vorschlag mein Hiersein mitinitiierten.

Zudem möchte ich Ihnen Grüße von der Historischen Kommission Sachsen-Anhalts übermitteln, in deren Quellen und Forschungen meine Dissertation kürzlich erschienen ist und bei der man sich auch sehr über die Entscheidung freut.

Als ich gebeten wurde, mich an dieser Stelle zu meinen methodischen Überlegungen zur biographischen beziehungsweise personenbezogenen Forschung zu äußern, gab mir dies die Gelegenheit, meine eigene Arbeit noch einmal zu reflektieren. Ich möchte die kommenden Minuten nutzen, Ihnen meine Gedanken zur Rolle der Personengeschichte in meiner Arbeit darzulegen. Ich möchte hier allerdings nicht den Anspruch darauf erheben, ein geschlossenes Konzept vorzustellen.

Erlauben Sie mir dazu zunächst einige grundsätzliche Vorüberlegungen:

Im Zentrum aller Geistes- und Kulturwissenschaften steht die Erforschung des Handelns und Schaffens von Menschen in ihrer Umwelt. Als solcher ist der Mensch auch Mittelpunkt der Geschichtswissenschaft, geht es doch um die Aufarbeitung menschlicher Vergangenheit und des Verstehens menschlichen Handelns.

Historische Arbeiten, die das Handeln von Individuen in den Mittelpunkt stellen, sind deshalb so alt wie die Geschichtsschreibung selbst. Die wohl verbreitetste Ausdrucksform dieses Interesses war und ist nach wie vor die Biographie.

Das literarische Genre der historischen Biographie ist deshalb allerdings auch sehr viel älter als die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung selbst. Zahlreiche bis heute teils massiv nachwirkende biographische Studien stammen insbesondere aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Aber auch Biographien von der Antike bis zur Aufklärung bestimmen teils noch heute unser Bild von historischen Personen und ihrem Einfluss auf die Geschichte.

Das Herangehen und die Arbeitsweise der damaligen Autoren steht uns allerdings oft sehr viel ferner, als es in der Öffentlichkeit und teils auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wahrgenommen wird.

Eigene Überlegungen, die sich mir in der Auseinandersetzung mit dem Entstehungskontext älterer Geschichtswerke aufgedrängt haben, haben ganz maßgeblich das Interesse an meinem Dissertationsprojekt geweckt.

Das erscheint vielleicht zunächst merkwürdig, da es sich bei Friedrich August von Anhalt-Zerbst doch um einen Reichsfürsten des späten 18. Jahrhunderts handelt. Dies hängt jedoch mit dem Zustandekommen des Projekts zusammen.

Als Andreas Erb, der Leiter der Abteilung Dessau des Landesarchivs Sachsen-Anhalt, im Dezember 2014 zu dem Thema ‚Räterepublik Zerbst im Kolloquium der Frühen Neuzeit in Halle vorgetragen hat, ging es ihm vor allem darum, generelles Interesse für ein spannendes Thema zu erzeugen und einen Abnehmer zu finden.

Im Vordergrund stand damals – sicherlich bewusst zugespitzt – die Frage, wie eine Riege korrupter Geheimräte, zeitweise angeführt von einem fürstlichen Friseur unter den Bedingungen der jahrzehntelangen Abwesenheit eines geistig nicht voll zurechnungsfähigen Fürsten, die Herrschaft in einem deutschen Kleinterritorium ausüben konnte; wie sie ihre Macht absicherten und sich gegenüber dem Herrscher zu legitimierten wussten.

Was mich aber zu Beginn fesselte, war weniger das durchaus spannende Thema der ‚Herrschaft auf Distanz, sondern vielmehr die Frage: Wie kommt man überhaupt zu dem Eindruck, dass ein unzurechnungsfähiger Herrscher sein Land unverwaltet zurücklassen konnte?

Und wie kommt es, dass ausgerechnet in einem Fürstentum mit einem solchen Landesherren auch noch eine Riege korrupter und tyrannischer Räte schlagartig an die Macht gelangt, obwohl unter den Bedingungen frühneuzeitlicher Herrschaft doch lange personelle Kontinuität und familiäre Tradition die Regel waren.

Auffällig war auch, dass die Schuld für alle negative Ereignisse und den Niedergang des Fürstentums von der Geschichtsschreibung einmütig einem Herrscher zugeschrieben wurde, den man gleichzeitig für wahnsinnig und sogar sadistisch hielt.

Aloys Winterling hat in seiner sehr aufschlussreichen Biographie Caligulas darauf aufmerksam gemacht, dass eine Gesellschaft, die einen offensichtlich wahnsinnigen Herrscher tolerierte hätte, sich selbst mitschuldig an dessen tyrannischem Handeln machte.[1]

Es stellt sich deshalb weiter die Frage: Warum lässt die Verwandtschaft dieses Herrschers ihn überhaupt über Jahrzehnte gewähren, ohne einzugreifen und das Ansehen der Dynastie zu schützen, wie es in der Frühen Neuzeit durchaus möglich und üblich gewesen wäre?

Warum werden sie nicht für das Handeln eines angeblich unmündigen Landesherrn verantwortlich gemacht?

Die Frage, wie Historiker über zwei Jahrhunderte zu einem solchen, meiner Meinung nach auf verschiedenen Ebenen ungereimten Bild kommen konnten, hat mich damals maßgeblich angetrieben.

Diese Überlegungen berühren den Kern der Kritik, der insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Seiten der sich etablierenden Sozial- und Strukturgeschichte an der Biographie geübt wurde.

Denn es handelt sich hier zunächst um ein Problem der Darstellung und den Versuch der Geschichtsschreibung um 1800, sich wiedersprechende Sachverhalte durch das Anhäufen von Einzelereignissen und deren Verknüpfung – unter anderem durch die Verwendung topischer Elemente – zu plausibilisieren.

Es ist hier zu wenig Zeit, ausgiebig die Entwicklung dieser Kritik darzulegen. Ich möchte nur auf einige, meiner Meinung nach grundlegende Punkte aufmerksam machen.

Kritisiert wurde insbesondere, dass die klassische Biographie den Einfluss, das Handeln und das Interagieren weiterer Akteure nicht hinreichend berücksichtigen kann. Zentrale Teilnehmer an Entscheidungen würden je nach Herangehensweise übersehen oder zu nicht näher zu erwähnenden Helfern degradiert. – Außerdem wurde moniert, dass die Handlungsmöglichkeiten einzelner Akteure massiv überschätzt wurden.

Aus der Perspektive meiner eigenen Forschungen würde ich noch hinzufügen wollen, dass man ihnen mithin sogar zu viel Verantwortung für historische Ereignisse aufgebürdet hat.

Diese Gefahr besteht insbesondere dann, wenn Biographien zu sehr als eine Leistungsbilanz von Erfolgen und Misserfolgen geschrieben werden. – Dies ist für die vom Genre des Bildungsromans beeinflussten Biographien des 19. Jahrhundert typisch, mit denen ich in meiner Arbeit konfrontiert war.

Die Kritik der Verfechter eines strukturalistischen Ansatzes richtete sich hier vornehmlich gegen eine Politik- und Ereignisgeschichte großer Männer und deren Heroisierung.

Mein Eindruck ist, dass diese Bewertung in der Geschichtswissenschaft heute konsensfähig ist – wenngleich Biographien diesen Stils, insbesondere in populärwissenschaftlichen Betrachtungen, nach wie vor einflussreich sind und wohl auch auf absehbare Zeit bedeutend bleiben werden.

Eine allzu sehr auf theoretische Konzeptionen und Typologisierungen abzielende strukturalistische Geschichtsschreibung bietet meiner Meinung nach jedoch keinen Ersatz für die Beschäftigung mit den handelnden Akteuren. Sie läuft vielmehr Gefahr, durch eine zu abstrakte Betrachtung historischer Entwicklungen selbst eine Ereignisgeschichte anonymer Gruppen hervorzubringen.

Ich möchte damit nicht sagen, dass derartige Vorgehensweisen grundsätzlich abzulehnen sind. Allerdings stützen sie sich nicht selten bereits in der Konzeption auf Vorstellungen, die selbst maßgeblich durch personen- und ereignisgeschichtliche Darstellungen, die sie ja zu überwinden suchen, geprägt sind.

Die Beschäftigung mit den konkreten Personen, ihren Beziehungsgeflechten und den Handlungszwängen, in denen sie standen, scheint mir deshalb unumgänglich für die Geschichtswissenschaft im Allgemeinen.

Entscheidend kommt es darauf an, den eindimensionalen Wahrheitsanspruch der Biographie, der ihr bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts oft anhaftete, zu überwinden und sich selbst das konstruierende Moment geschichtswissenschaftlicher Forschung bewusst zu halten.

Ich möchte dies kurz an den beiden Fürsten plausibilisieren, die im Zentrum meiner bisherigen Arbeiten gestanden haben.

Es handelt sich zum einen um Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau, der heute vor allem durch das Dessau-Wörlitzer Gartenreich präsent geblieben ist. Bei dem anderen Fürsten handelt es sich um Friedrich August von Anhalt-Zerbst.

Betrachtet man die strukturellen Voraussetzungen beider Fürsten, so ergibt sich ein relativ gleichförmiges Bild. Beide Herrscher regierten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zwei der kleinsten Reichsfürstentümer Deutschlands. Sie verfügten über ähnliche materielle Ressourcen und über strukturell ähnliche Verwaltungsapparate. Vergleichbare politische Probleme beschäftigten beide Herrscher; und sieht man von den außenpolitische Präferenzen ab, kamen beide Fürsten auch zu ähnlichen Lösungsansätzen.

Eine solche Analyse hilft dann nicht mehr weiter, wenn danach gefragt wird, warum Franz von Anhalt-Dessau noch heute als Vorzeigebeispiel eines aufgeklärten Herrschers gilt, während Friedrich August von Anhalt-Zerbst als Karikatur des Fürsten im späten Alten Reich firmiert.

Die Vorstellung einer Karikatur, die sich auch verschiedentlich in Zitaten wiederfindet, hat mich beim Schreiben meiner Dissertation ganz Wesentlich geleitet und angespornt. Mir ging es darum, das karikierte Bild des Fürsten zu entzerren.

Zentral erschien es mir deshalb nicht, einen vollständigen historischen Abriss des Lebensweges Friedrich Augusts geben zu können, der die negative Darstellung in der Geschichtsschreibung zum Fürsten widerlegt, sondern auf verschiedenen Feldern der Frage nachzugehen, warum sich Verfasser von Geschichte und Geschichten über Fürst Friedrich August dieses Bild machten.

Zentral waren für mich damit Aspekte der Fremdwahrnehmung und Selbstinszenierung der in den Blick genommenen Personenkreise, die über die Person Friedrich Augusts deutlich hinausgingen. Um die Entstehung und Verknüpfung unterschiedlicher Wahrnehmungen in der Geschichte richtig zu würdigen, ist es meiner Meinung nach unumgänglich, diese im Rahmen von personellen Netzwerke und Beziehungsgeflechten zu erschließen.

Konkret bedeutete dies für mich, auf zwei Zeitebenen und bei vier Akteuren beziehungsweise Akteursgruppen anzusetzen:

1. Den Historikern, die das Bild des Fürsten etabliert hatten,

2. den durch die Aufklärung geprägten Autoren, welche das für die Geschichtsschreibung lange so einleuchtende Bild durch ihre Schilderungen vorgaben,

3. dem Fürsten selbst, der durch eine unglückliche Imagepolitik und einen ungewöhnlichen Lebenswandel als dankbare Projektionsfläche dieser Autoren dienen konnte

4. und zuletzt der Diener des Fürsten, die durch ihr Handeln zur Entstehung des Bildes beitrugen, aber auch selbst in dieses Geschichtsbild als ein einheitlicher Block integriert wurden.

Abschließend möchte ich meine Gedanken noch kurz bündeln:

Strukturen lassen sich nur verstehen, wenn sie mit Leben gefüllt werden. Dies ist die Aufgabe von personenbezogener Forschung. Diese in den Mittelpunkt zu stellen, erscheint mir deshalb unumgänglich, insbesondere dann, wenn man den Einzelfall betrachtet.

Dabei ist die personenzentrierte Forschung auch deshalb ein so geeignetes Instrument des Historikers, weil sie sich als flexibel anwendbar erweist. Wichtig ist es dabei jedoch, nicht von einer Person allein auszugehen, sondern sie immer als Teil von Netzwerken, Kommunikations- und Beziehungsgeflechten zu betrachten. Dies gilt sowohl für die handelnden Akteure, deren Geschichte man zu erschließen sucht, als auch für die Geschichtsschreibung, die unser Bild von dieser Geschichte vorprägt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!