2016 - Rede der Preisträgerin Dr. Nina Kühnle
Lieber Herr Huth, sehr geehrte Mitglieder des Instituts und der Stiftung für Personengeschichte, meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist mir eine große Freude und gleichermaßen eine große Ehre, heute Abend in diesem feierlichen Rahmen zu Ihnen allen sprechen zu dürfen. Als ich Anfang Februar ein Einschreiben des Bensheimer Instituts für Personengeschichte erhielt, in dem mir Herr Huth mitteilte, von der Jury zur Preisträgerin gekürt worden zu sein, war ich zuerst überrascht und dann sehr glücklich. Der heutige Abend lässt diesen Moment erneut für mich lebendig werden und daher möchte ich zu Beginn meiner Rede meine tief empfundene Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Ihnen, Herr Huth, der Sie der Glücksbote waren, danke ich für die Einladung und für Ihre sehr liebenswürdigen Worte zu meinem Werk und meiner Person. Ich danke den Mitgliedern der Jury für ihre Entscheidung, die mich überhaupt erst hierhergebracht hat. Und ich danke den Mitarbeitern des Instituts für Personengeschichte, namentlich Frau Langer-Schulz, für ihre umsichtige organisatorische Hilfe im Vorfeld dieses Abends. Danken möchte ich aber auch meinem Doktorvater Herrn Professor Doktor Oliver Auge, der meine Arbeit ganz maßgeblich befördert und mich letztlich für diesen Forschungspreis vorgeschlagen hat. Und schließlich danke ich einer Person, die mich mit großer Geduld durch alle emotionalen Stadien des Schaffensprozesses begleitet hat und am Tag der Abgabe vielleicht sogar noch froher war als ich: meinem Lebensgefährten – dieser Preis ist auch Dein Preis. Bis zum heutigen Abend sind viele Menschen mit meiner Dissertation in Berührung gekommen und haben ihr Entstehen beeinflusst. Am allermeisten gilt das natürlich für jene Menschen, die im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen: die führenden Bürger der württembergischen Städte im späten Mittelalter, die städtischen Führungsgruppen also, die an der Spitze der urbanen Gesellschaft standen und die wir heute salopp auch als die „high society“ bezeichnen könnten. Dass die Wahl des Untersuchungsraums gerade auf Württemberg fiel, liegt an der ungebrochenen Faszination, die ebenjene Stadtbürger aus längst vergangenen Zeiten bis heute ausüben. Aus weitgehend kleinstädtischen Verhältnissen erwachsen und im festen Griff ihres territorialen Herrn, entwickelten sie sich zu einer ernstzunehmenden politischen Größe, mit der sich der Graf oder später Herzog arrangieren musste – ein Zusammenspiel, aus dem im Jahr 1514 der vielbeachtete „Tübinger Vertrag“ hervorging, der manchen sogar schon als „Magna Charta“ Württembergs galt. [1] Doch lassen Sie uns zum Anfang meines Projektes zurückkehren. Denn am Anfang stand für mich die entscheidende Frage, wie ich diese Stadteliten überhaupt identifizieren sollte. Wie bekommt man heraus, welche Personen im spätmittelalterlichen Stuttgart und anderen Städten den Ton angegeben hatten? – Personen, die in den Quellen natürlich nicht mit dem Wort „Elite“ ausgezeichnet waren. Ein wichtiger Ausgangspunkt meiner Arbeit, der mit diesen Überlegungen unmittelbar zusammenhing und den ich klären, ja sagen wir ruhig, dem ich mich stellen musste, war der Begriff der so genannten „Ehrbarkeit“. Dahinter verbirgt sich die Idee des Landeshistorikers Hansmartin Decker-Hauff, dass die „Ehrbarkeit“ eine einzigartige württembergische Sondergruppe gewesen sei, bei deren Mitgliedern es sich um Amtsträger gehandelt habe und die in ihrer Genese auf die Stadt zurückzuführen sei. Und der Name „Ehrbarkeit“ rühre daher, dass man die Angehörigen dieser Gruppe in den Quellen praktischerweise ganz leicht durch das vorangestellte Attribut „ehrbar“ ausfindig machen könne.[2] Sollte das eine genial einfache Antwort auf meine Frage sein? Nein, natürlich nicht, aber die Wirkmächtigkeit dieses Konstrukts, das längst (auch aufgrund der Popularität Decker-Hauffs) eine württembergische Meisterzählung geworden war, war nicht zu verleugnen. Eine Grundsatzentscheidung verschob ich zunächst und setzte auf eine Anregung Peter Rückerts hin den Begriff „Ehrbarkeit“ in meinen Publikationen vorsichtig in Anführungszeichen. Wie das Ganze ausgegangen ist, sehen Sie am Titel meiner Arbeit. Dort gibt es keine „Ehrbarkeit“ mehr, vielmehr habe ich beschlossen, meine Personen weitaus neutraler als „städtische Führungsgruppen“ oder „städtische Eliten“ zu bezeichnen. Personengeschichte zu erforschen, heißt somit auch, sich zuallererst zu vergewissern, wen man eigentlich meint. Und Hansmartin Decker-Hauff inspirierte mich übrigens gleich in zweifacher Hinsicht: Nicht nur gab er mir den wertvollen Hinweis, in den Quellen nach den in aller Regel besser überlieferten Amtsträgern – also etwa nach den Richtern, Bürgermeistern und Vögten – Ausschau zu halten, sondern stachelte auch meinen Ehrgeiz in besonderer Weise an: In seiner ihm eigenen plakativ-zuspitzenden Art behauptete er nämlich, dass sich keine württembergische Stadt für eine sozialgeschichtliche Untersuchung lohne, denn es säßen ohnehin überall die gleichen Leute, sprich die gleichen Familien.[3] Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen – und ich sollte auch Recht behalten. Personen, das haben Sie mittlerweile rausgehört, sind die Quintessenz meiner Arbeit, gewissermaßen das Blut in den Adern meines Werkes, wenn Sie mir diesen dramatischen Vergleich gestatten. Als einzelne Persönlichkeiten, vor allem aber als Familien durchdringen sie fast alle Kapitel. Und selbst da, wo sie nicht unmittelbar thematisiert werden, in meinem ersten Großkapitel über die Bedeutung der württembergischen Städte, ist ihr Geist lebendig. Denn das Verständnis der Territorialstädte war mir eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der städtischen Führungsgruppen. Und in dem Bestreben, das Verhältnis dieser Gruppen zur Landesherrschaft zu beleuchten, stehen sie in der weiteren Untersuchung natürlich ganz klar im Fokus. So begegneten mir jene Menschen auf meiner Suche nach allgemeinen Charakteristika nicht nur als Amtsträger, sondern auch als relativ wohlhabende Bürger und als gewiefte Heiratsstrategen, die bevorzugt untereinander heirateten, um ihre gesellschaftliche und politische Führung dauerhaft zu gewährleisten. Ihr zunehmendes Selbstbewusstsein kam in bemerkenswerten Kunstschätzen und in dem Streben nach einem adelsgleichen Lebensstil zum Ausdruck. Das alles reichte mir aber noch längst nicht. Ich wollte es genauer wissen und tief in den Mikrokosmos einzelner Städte, meiner Fallbeispiele, eindringen. Ich war fasziniert von der Idee, auf welche Prozesse und Spezifika ich stoßen könnte, wenn ich einmal – ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber doch so umfassend wie möglich – ganz konkrete Führungsgruppen in den Blick nehmen würde. Bei der Auswahl dieser Beispiele und der damit zusammenhängenden Kriterien habe ich ganz bewusst darauf verzichtet, nur solche Städte mit besonders guter Quellenlage auszuwählen. Ich wollte einfach sehen, was man über die spätmittelalterlichen Stadteliten Stuttgarts, aber auch Brackenheims, Nagolds und Münsingens erfahren konnte, wenn man einmal tief schürfte. Und das war eine ganze Menge, wie ich angesichts der sich rasch füllenden Seiten meiner Arbeit feststellte. Natürlich gibt es auch viele Lücken. Es ist eines der Probleme der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Mittelalterforschung und hier konkret der mittelalterlichen Personengeschichte im Besonderen, dass bei der Erforschung einer weit vergangenen Zeit vieles fremd und unbekannt bleiben muss. Zwar kam es in meinem Untersuchungszeitraum zu einem sprunghaften Anstieg von Schriftlichkeit, was in der Regel eine bessere Quellengrundlage nach sich zieht. Doch war mir dieses Wissen manches Mal nur ein geringer Trost, wenn ich in den archivischen Datenbanken wieder einmal feststellte, dass die von mir gesuchte Urkunde, der Brief, das Steuerbuch, die Akte während des Zweiten Weltkriegs verbrannt waren. Mit solchen Überlieferungsverlusten haben natürlich fast alle Historiker zu kämpfen; allerdings wird ihre Wahrscheinlichkeit immer höher, je weiter man sich rückwärts in der Geschichte bewegt. Hat man trotz dieser Grundproblematik ausreichend Material gesammelt, bleibt es schwierig: Denn die Quellen geben kaum einmal detaillierte Lebensläufe wieder oder gewähren gar berichtsartige Einblicke in die Alltagswelt der Stadteliten und ihr Verhältnis zu ihrem Landesherrn – kurzum: sie teilen mir kaum einmal mit, was ich eigentlich wissen will. Biographische Daten und Zusammenhänge müssen stattdessen in manchmal geradezu detektivischer Kleinarbeit aus Steuerlisten, Besitzinventaren, herrschaftlicher Korrespondenz, Rechnungsbüchern, Universitätsmatrikeln und vielem mehr erst mühsam destilliert werden. Das erfordert einen langen Atem und kann manchmal zu Frust führen, wenn viele Stunden Arbeit in einen einzigen geschriebenen Satz münden oder wenn wieder einmal alle männlichen Nachkommen Johannes heißen und alle weiblichen Margarethe und sich Familienverhältnisse daher kaum erschließen lassen. Das alles hat zur Folge, dass viele Personen und Familien nur schemenhaft aus dem Dunkel der Geschichte hervortreten. Aber es gibt auch die kleinen Glücksmomente, wenn manche Quellen ganz nebenbei für mich wichtige Informationen preisgeben. Wenn es etwa in der Stuttgarter Stadtsatzung von 1492 heißt, dass der Umgang mit dem Stadtsiegel neu geregelt werden müsse, weil manche Richter nicht lesen und schreiben könnten.[4] Oder wenn der Vaihinger Schultheiß Konrad Gremp 1519 über einen an sich schon interessanten gewaltsamen Zusammenstoß mit einem seiner Amtsvorgänger berichtet und beiläufig erwähnt, dass er gerade mit seiner Frau, seiner Tochter und dem Stadtschreiber zu Abend gegessen hätte.[5] Wie ergiebig die Personengeschichte schon immer für die württembergische Landesgeschichte gewesen ist, oder vielleicht sollte man besser sagen, wie ergiebig die württembergische Landesgeschichte schon immer für die Personengeschichte gewesen ist, haben schon zahlreiche Publikationen bewiesen. Ich will stellvertretend nur auf die vergleichende Studie von Christian Hesse zu den fürstlichen Amtsträgern[6] und auf die Arbeit von Oliver Auge über die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts[7] verweisen. Auch meine Untersuchung konnte durch die intime Beschäftigung mit Personen zahlreiche Erkenntnisse zu Tage fördern: In engem Zusammenhang mit meinem Hauptinteresse, den Beziehungen zwischen den Stadteliten und der Landesherrschaft in einem Spannungsfeld von Kooperation und Konflikt, habe ich beispielsweise vielfach die landständische Geschichte berührt und sehr viel über die Entwicklung der politischen Partizipation gelernt – die „Landschaft“ ist hier ein wichtiges Stichwort. In diesem Kontext steht auch die Ausformung der Funktionseliten, die im Zuge eines zunehmend ausdifferenzierten Verwaltungsapparats neue Entfaltungsmöglichkeiten erhielten. Auf stadthistorischer Ebene konnte ich einen Einblick in die Urbanisierungsgeschichte gewinnen, für die die Wechselwirkung zwischen den städtischen Rahmenbedingungen und der Entwicklung der urbanen Führungsgruppen, die zugleich stets als Sprachrohr ihrer Stadt fungierten, maßgeblich ist. Daran schließen sich meine Einsichten in sozialgeschichtliche Dynamiken und Transformationsprozesse an, sei es auf der Mikroebene am Beispiel einzelner Städte oder sei es im Angesicht singulärer Ereignisse wie des Aufstands des Armen Konrads. Hinzu treten zahlreiche weitere Erkenntnisse in den Bereichen der Alltagsgeschichte, der Kommunikationsgeschichte, der Genealogie, der Leibherrschaft oder auch der Kunstgeschichte, die zum Teil gar nicht erschöpfend behandelt werden konnten. Und meine Arbeit war noch nicht recht abgeschlossen, da taten sich schon weiterführende Perspektiven auf: Was ist eigentlich mit dem württembergischen Niederadel und seinen Beziehungen zum Stadtbürgertum, was mit der Stuttgarter Kanzlei, die bislang nur ansatzweise sozialgeschichtlich untersucht wurde? Personengeschichte fördert also immer wieder neue Themen zutage und erweist sich daher als besonders fruchtbar. Zum Abschluss meiner Rede möchte ich aber gerne betonen, dass die alten, vermeintlich abgehandelten Themen natürlich keineswegs ausrangiert werden und in Vergessenheit geraten. Ich hoffe darauf, dass mich die städtischen Führungsgruppen des spätmittelalterlichen Württemberg auch noch in meinem weiteren Forscherleben begleiten werden. Denn gerade die Personengeschichte birgt die Gefahr, dass einem die untersuchten Menschen ans Herz wachsen, dass man mit ihnen fiebert, triumphiert und leidet und dass man immer mehr über sie wissen will. Dieser Gefahr setze ich mich weiterhin sehr gerne aus. Herzlichsten Dank für die Auszeichnung und Ihre Aufmerksamkeit!
[1] Der „Tübinger Vertrag“ ist ediert in: Württembergische Landtagsakten, Bd. 1: 1498–1515, bearb. von Wilhelm Ohr/Erich Kober (Württembergische Landtagsakten 1/1), Stuttgart 1913, Nr. 72, S. 225–233. Zur Rezeptionsgeschichte des „Tübinger Vertrags“ siehe z. B. Dieter Langewiesche, Magna Charta der Württemberger – vom Kampf ums alte gute Recht zur geschichtlichen Erinnerungsformel, in: 1514. Macht, Gewalt, Freiheit. Der Vertrag zu Tübingen in Zeiten des Umbruchs, hg. von Götz Adriani/Andreas Schmauder, Tübingen 2014, S. 477–481. [2] Decker-Hauff entwickelt den Begriff der „Ehrbarkeit“ in seiner unveröffentlichten Dissertation: Hansmartin Decker-Hauff, Die Entstehung der altwürttembergischen Ehrbarkeit 1250–1534, Diss. masch., Wien 1946. [3] Hansmartin Decker-Hauff, Die gesellschaftliche Struktur der mittelalterlichen Städte Württembergs, in: Protokoll des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte 119, 1964, S. 119–133, hier S. 119: „In Alt-Württemberg handelt es sich bekanntlich durchwegs um kleine Gründungsstädte des 13. Jh., landsässige Städte, von denen keine, Stuttgart vielleicht ausgenommen, über 2000 Einwohner im Mittelalter hinausgekommen ist. Keine lohnt, daß man sie allein untersucht; man kommt sehr schnell darauf, daß sie alle in ihrer Oberschicht so verflochten sind, daß sie eigentlich eine große Gemeinschaft bilden. Die Basis war zu schmal, um etwa wie Augsburg, Nürnberg, Straßburg, Frankfurt eigene Patriziate auszubilden; es gibt eigentlich nur eine Oberschicht, die in allen Städten zusammenhängt und personell aufs engste verquickt ist; praktisch sitzen die gleichen Leute in allen diesen Städten.“ [4] Urkundenbuch der Stadt Stuttgart, bearb. von Adolf Rapp (Württembergische Geschichtsquellen 13), Stuttgart 1912, Nr. 824, S. 541, Z. 7–14: Item also der statt insigel bisher under den richtern umbgegangen und oft ainem worden ist, der nit hat kunden schriben noch lesen, und nu sölichs in kunftig zit schaden geperen möcht, ordnen und wöllen wir das sölichs furohin nit mer gescheen, sonder der stat insigel in ainer guten behaltnus bewarnet, und der wochen nit mer denn etlich tage damit besigelt werden sölle durch die, so von vogt und gerichte darzu beschaiden werdent, die ouch an statt in namen und von wegen vogts und gerichts besiglen söllent. [5] Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand A 84 (Vertreibung Herzog Ulrichs), Bü 5, St. 7, S. 1: Als er [= Philipp Syblin] uff denn mitwoch zu abend komen und sein frow noch uff dem weg, alleß um die zit, alß man die dor zu beschliessen wolt, da schickt er sinen son maister vilipsen zu mir, als ich unnd der statschriber mit ainander in mynem huß zu nacht assen begert [...]. Aus dem weiteren Bericht über die folgende Eskalation zwischen Philipp Syblin d. Ä. und Konrad Gremp geht hervor, dass der Schultheiß zusammen mit seiner Frau, seiner Tochter und dem Stadtschreiber zu Abend aß. [6] Christian Hesse, Amtsträger der Fürsten im spätmittelalterlichen Reich. Die Funktionseliten der lokalen Verwaltung in Bayern-Landshut, Hessen, Sachsen und Württemberg, 1350–1515 (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 70), Göttingen 2005. [7] Oliver Auge, Stiftsbiographien. Die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts (1250–1552) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 38), Leinfelden-Echterdingen 2002.